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Kommentar Deutsch: Was ist das eigentlich?

Von Arno Widmann 14.09.2016, 12:11

Berlin - Manche sind wieder gerne deutsch. Es hat natürlich etwas Lächerliches, wenn Menschen, die schon in der dritten oder vierten oder gar siebten oder achten Generation Deutsche sind, jetzt auf die Idee kommen, stolz darauf sein zu wollen, dass sie Deutsche sind. Haben sie nichts getan, worauf sie stolz sein können?  

Bei ihnen geht es – schaut man genauer hin – nicht darum, deutsch zu sein. Es geht darum, anderen abzusprechen, deutsch zu sein. Es geht mal wieder um eine Machtergreifung. Es geht darum, selbst zu definieren, wer Deutscher ist oder werden darf.  Viele von denen, die Wert darauf legen, dass Deutschland den Deutschen gehören soll, meinen damit, dass wir schon viel zu viele „Ausländer“ im Land haben. Zu ihnen zählen sie gerne auch Deutsche, deren Eltern oder Großeltern außerhalb Deutschlands geboren wurden.

Jeder von uns pflegt seine eigenen Marotten, kultiviert seine eigene Engstirnigkeit. Dagegen ist nichts zu sagen. Wer aber meint, seine  Beschränktheit dem Rest der Bundesbürger als kulturelle Wende aufzwingen zu müssen, der wird mit Gegenwehr rechnen müssen. Wer das gar wie Vertreter der CSU im Namen der christlichen Tradition tut, dem lesen jetzt auch die Vertreter christlicher Kirchen die Leviten.

Es gibt keinen deutschen Volkscharakter

Deutschland war niemals so lebensgefährlich für seine Nachbarn wie für die eigene Bevölkerung als in den Jahren, da es sich anschickte, allein und nur deutsch zu sein.  Das ist keine deutsche Besonderheit. Ähnliches lässt sich zum Beispiel auch von Spanien, Frankreich und England sagen. Es gibt keinen deutschen Volkscharakter. Es gibt ihn so wenig, wie es eine deutsche Seele oder einen deutschen Wein gibt. Alles Importe, Verschnitte, immer wieder neu sich bildende Konstellationen. Immer in der Auseinandersetzung mit dem anderen. Mal mit dem Punk gegen den deutschen Schlager, dann wieder mit dem Chanson gegen den Kraut-Rock.

Eine Heimat muss man nicht propagieren

Ihr wollt eine Heimat? Etwas worauf ihr euch verlassen wollt? Eine Heimat hat man. Man muss sie nicht propagieren. Es ist der Ort, an dem man sich wohlfühlt, zu dem man zurückkehrt, wenn es einem schlecht geht. Heimat ist eine individuelle Gefühls-, eine Gedankenlandschaft.  Je älter man ist, desto  innerlicher wird die Heimat. Die Welt draußen ändert sich. Kein Stein bleibt auf dem  anderen. Wer sich selbst genauer ansieht, weiß, dass  auch er sich ändert. Auch er hört mit 50 andere Musik, als er mit 20 hörte.  Er dreht sich nach anderen Frauen um.   Es gibt kein zurück. Und das ist, mit einem unvergessenen Regierenden Bürgermeister zu sprechen, auch gut so.

Alles hängt davon ab, dass wir uns gerade nicht einkesseln, dass wir nicht versuchen, unsere Identität festzuschreiben. Denn das geht nicht. Ein paar Jahre schon:  mit Mauerbau und Konzentrationslagern, mit Brandanschlägen und Bürgerkrieg. Niemals geht das mit Recht und Ordnung. So gerne die auch als Hausgötter angerufen werden.

Alle Länder der Welt erfinden sich immer wieder neu

Ich jedenfalls freue mich darüber, dass es das Deutschland, in das ich 1946 hineingeboren wurde – als Kind von Eltern, die bei ihrer Hochzeit noch ihre Ariernachweise vorlegen mussten – nicht mehr gibt. Deutschland, Europa, alle Länder der Welt, haben  sich  immer wieder neu erfunden. Wer es nicht tat, blieb auf der Strecke. Wir werden uns wieder neu erfinden müssen.

Deutschland war Jahrhunderte lang eine Utopie. Die meisten Deutschen interessierten sich nicht für sie. Sie waren nicht Deutsche, sondern Berliner oder Charlottenburger, freie Reichsstädter oder Sachsenhäuser. Sie bekriegten einander und nur wenige träumten den Traum von Deutschland.  Viele Juden träumten ihn. Vielleicht war auch das ein Grund, warum sie 60 Jahre nach der Realisierung des Traumes so rabiat aus ihm vertrieben wurden. 

Die Deutschen waren nicht wirklich scharf auf Deutschland. Das ist heute nicht anders. Die, die heute „Deutschland! Deutschland!“ schreien, die schreien noch lieber „Ausländer raus!“ Die, die wirklich Deutschland und Europa wollen, das sind nicht die Deutschen und die Europäer. Das sind die, die draußen stehen. Sie haben einen Traum von Deutschland, einen Traum von Europa. Wir werden ein überlebensfähiges Europa ohne Brandanschläge und Bürgerkrieg nur mit ihnen zusammen hinbekommen. So paradox ist die Wirklichkeit.

Das Projekt Deutschland und das Projekt Europa hängen so zusammen, dass sie nur gemeinsam glücken oder gemeinsam scheitern können. Sie sind angewiesen auf die Träumer, die wissen, welch kostbares Gut Freiheit und Sicherheit sind. Auf die also, denen man  alles nahm und denen die Deutschen und Europa helfen müssen, um sich vor sich selbst und der eigenen – und nicht nur der eigenen – Barbarei zu retten.