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Ein Archiv unter der Haut Museum für Völkerkunde in Leipzig: Ein Archiv unter der Haut

Von Nikta Vahid 28.03.2017, 10:00
Er zeigt, was er hat: Philipp Danneberg aus Grimma wird Teil des lebenden Archivs.
Er zeigt, was er hat: Philipp Danneberg aus Grimma wird Teil des lebenden Archivs. Meike Johnsen

Leipzig - Philipp Danneberg ist tätowiert. An beiden Armen, und damit soll noch lange nicht Schluss sein. Er will weitermachen, Oberkörper und Rücken stehen als nächstes an. Und jede seiner Tätowierungen, sagt er, habe eine Bedeutung - das sei ein Muss.

Welche Bedeutungen und welche Motivation hinter den scheinbar oberflächlichen Bildern auf der Haut stecken, versucht das Grassi Museum für Völkerkunde in Leipzig im Rahmen eines auf mehrere Monate angelegten Projekts zu ergründen. „Tattoo und Piercing - Die Welt unter der Haut“ ist der vierte Teil der interaktiven Ausstellungsreihe „Grassi Invites“. Der Name ist Programm: Das Museum lädt seine Besucher ein mitzumachen, selbst Teil der Ausstellung zu werden und diese maßgeblich zu bestimmen. Angesprochen werden tätowierte und gepiercte Menschen, die ihren Körperschmuck fotografieren lassen und somit ein Teil des lebendigen Archivs werden wollen.

Ästhetik oder Statement?

Tätowierungen liegen im Trend. Namhafte Tätowierer sind meist monatelang im Voraus ausgebucht. Aber woher kommt es, dieses plötzliche Interesse an den Bildern auf der Haut? Und was steckt hinter der verzierten Schale - purer Narzissmus, die Lust, sich verschönern zu wollen oder eine Botschaft? „Hinter Tattoos steckt mehr“, meint Grassi-Direktorin Nanette Snoep. Sie zeigt sich bei der Auftaktveranstaltung ganz begeistert von der Idee der Ausstellung - obwohl und vielleicht gerade weil sie selbst keine Tätowierung hat. Sie wolle wissen, welche Geschichten hinter den Bildern auf der Haut stecken, die Motive erkunden und verstehen, was gerade so viele Menschen dazu antreibt, sich ein Tattoo stechen zu lassen, das sie ein Leben lang mit sich herumtragen müssen. „Grassi Invites“ möchte all das dokumentieren.

„Mir ist aufgefallen, dass extrem viele und verschiedene Leute tätowiert und gepierct sind“, sagt Snoep. Das Thema sei ein Element der modernen Ethnologie. Aufgabe des Museums sei es, die Beweggründe tätowierter Menschen von heute mit Ritualen an anderen Orten der Welt zu vergleichen - auch mit Blick in die Vergangenheit. Sie wolle ein lokales Archiv aufbauen, das sich in ein weltweites Phänomen einbetten lässt. So wurde etwa nachgewiesen, dass schon Ötzi tätowiert war - wenn auch eher funktional als schmückend.

„Oft steckt reine Ästhetik dahinter“, sagt Snoep, doch sei ihr beim genaueren Nachfragen aufgefallen, dass weitere Beweggründe zum Vorschein kämen. Liebe etwa, Trauer und deren Verarbeitung, Zugehörigkeit oder sogar Politik. In welche Richtung sich die Ausstellung wendet, das entscheiden die, die ein Teil davon werden, sagt Nanette Snoep. Einen Kurator gebe es nicht. „Was am Ende dabei herauskommt, wissen wir noch nicht“, kündigt sie an. Philipp Danneberg ist einer derjenigen, die sich für das lebendige Archiv fotografieren lässt. Einer, der sich niemals ein Tattoo aus rein ästhetischen Gründen stechen lassen würde. „Tattoos sind noch immer verpönt, man wird schnell als kriminell abgestempelt“, bedauert der junge Mann aus dem sächsischen Grimma. Tätowierungen sollen ihren schlechten Ruf endlich verlieren, sagt Danneberg. Die Bilder können dabei helfen, Geschehenes zu verarbeiten und hätten eine weitaus tiefere Bedeutung für den Träger, sagt er und streift den Pullover wieder über die nackten Arme. Deswegen wolle er Teil des lebendigen Archivs werden.

Ähnlich denkt auch Marie Beyer. Die Leipzigerin ist Anfang 30, ist selbst großflächig tätowiert und lebt mittlerweile davon, anderen Menschen Bilder und Zeichen unter die Haut zu stechen. Ihre Tätowierungen zeigt sie selbstbewusst und ganz ohne Scheu. Die gelernte Kauffrau wagte vor einigen Jahren den Absprung aus der Immobilienbranche. Seit 2013 tätowiert sie hauptberuflich, seit 2016 im Leipziger Studio „Alte Fleischerei“. Tätowierungen faszinierten sie schon seit ihrem elften Lebensjahr, als sie sehnsüchtig durch die Fenster einen Tattoostudios direkt gegenüber ihrer Schule blickte, erinnert sich Beyer. „Tattoos können so viel ausdrücken. Kunst, Abgrenzung, Verarbeitung“, sagt sie und erhofft sich von der entstehenden Ausstellung mehr Akzeptanz: „Ich möchte, dass Tätowierungen endlich salonfähig werden“.

Wenn auch noch nicht salonfähig: Tätowierungen sind heute so beliebt wie nie zuvor und in der breiten Masse angekommen. Nicht nur der Ex-Knacki ist tätowiert, sondern auch der Banker oder Manager trägt heute bunte Bilder versteckt unter dem gestärkten Hemd.

Die Sammlung wächst weiter

Noch gleicht der Leipziger Ausstellungssaal einer Werkstatt in der Aufbauphase: Die weißen Regale wollen noch bestückt werden, erste Bilder an der Wand zeigen Fotos von naiv gezeichneten Tätowierungen, in der Mitte stehen alte Holzstühle und Tische, auf denen Zettel liegen mit der Aufschrift: „Ich habe mich tätowieren lassen, weil...“, „Das Spannende an Tattoos/Piercings ist für mich...“ oder „Ich trage Tattoos verdeckt/offen, weil...“ Im Hintergrund läuft aus Lautsprecherboxen das unangenehme Summen einer Tätowiermaschine. Hier sollen in den kommenden Wochen Vorträge, Konzerte und Performances stattfinden. Auch ein Tätowierer ist angesagt.

Ab 22. September sollen in diesem Raum überall Fotos zu sehen, Geschichten zu lesen und Interviews zu hören sein, sagt Snoep. Sie plant, das lebendige Archiv auch nach Ausstellungsende wachsen zu lassen. Während sie schon in die Zukunft denkt, sind eine Tür weiter  - im Fotostudio - die ersten Shootings im Gange. Eine kleine Schlange hat sich gebildet. Vor allem junge Menschen wollen ihre mal mehr, mal weniger ästhetischen Tattoos zur Schau stellen. Philipp Danneberg hält sein Foto bereits in den Händen.

Informationen und Termine: www.grassiinvites.info (mz)